Wednesday 15 November 2017

Nighthawks

Jedes Bild erzählt eine Geschichte, heisst es in der Pressemitteilung. Nicht nur eine, sondern mehrere. Zudem: Nicht die Bilder erzählen Geschichten, sondern die, die sie sich anschauen, weshalb sie denn auch meist mehr über die Betrachter als über das Betrachtete aussagen.

Was für eine tolle Idee, Geschichten von US-Autoren (wobei: Lee Child ist Engländer, lebt jedoch schon lange in Manhattan) zu den Bildern von Edward Hopper (1882-1967), diesem ikonischen US-Maler, in einem Band zu publizieren. Noch toller ist, dass es sich dabei hauptsächlich um Thriller-Autoren handelt, die ich schätze. Unter ihnen gibt es auch solche, von denen mir nur die Namen geläufig sind und noch andere, die ich überhaupt nicht kenne, auf die ich jedoch hinreichend neugierig bin, weil ich vor vielen Jahren auch ein paar Bücher (aus der Bernie-Rhodenbarr-Serie) des Herausgebers, Lawrence Block, gelesen habe und ihm deswegen vertraue, obwohl ich keine rechte Erinnerung mehr daran habe.

Den einzelnen Geschichten ist eine Kurzinformation über die jeweiligen Autoren vorangestellt, bei einigen erfährt man etwas über ihren Hopper-Bezug, bei anderen nicht. Bei Jill D. Block liest man: "Sie erinnert sich vage, am College einen Kurs in Kunstgeschichte belegt zu haben, in dem sie in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Ausschalten der Beleuchtung und dem Einschlafen möglicherweise ein Dia von einem Edward-Hopper-Gemälde gesehen hat." Was ihre Geschichte mit Hopper zu tun hat, hat sich mir nicht einmal vage erschlossen, doch sie ist clever aufgebaut, zieht einen hinein.

Auf ganz vielfältige Art gelungen ist Robert Olen Butlers 'Abenddämmerung'. Das Hopper-Bild zeigt einen Pierrot auf einer Restaurantterrasse sitzen, eine Zigarette im Mund und vor sich hin starrend. Butlers Protagonist ist Maler, hat seine Frau Solange von der Place Pigalle gerettet und oft gemalt. "Sie hat sich in das Bild verliebt, das ich für sie erschaffen habe. Ich habe die wahre Gestalt ihres Fleisches gemalt, in Sonnenlicht und Schatten, im Schlaf und in Leidenschaft. Nur ich kenne die wahre Rötung ihrer Wangen, das rohe Siena und Ockergelb und Kadmiumrot unter den grellen Farben, mit denen sie das leidenschaftliche Gesicht gemalt hat, dass sie Leclerc präsentiert. Wir haben begriffen, Solange und ich, dass sie im tieferen Sinn nicht mehr existiert, es sei denn durch meine Hand."

Fazit: Ein höchst anregender Band, der nicht nur einlädt, Hoppers Bilder genauer zu betrachten, sondern auch Autoren zu entdecken. Zum Beispiel Craig Ferguson, der ein Fan von Edward Hopper, Lawrence Block, Elvis Presley und des heiligen Augustinus ist und von dem diese ganz wunderbare Passage stammt: "Während die Zeit dahinschwand, begannen die beiden alten Männer, die ihr ganzes Leben nur wenige Meilen voneinander gelebt hatten, einander ihre Geschichten zu erzählen, und in der Art von Menschen, denen Lächerlichkeit und Scham fremd geworden sind, vertrauten sie sich auch ihre Misserfolge an. Als Ehegatten, Väter, Liebhaber, als Männer. Und natürlich führte dieses Teilen ihrer Misserfolge dazu, dass sie einander mochten. Ein Vertrauen, zu dem nur die Verdammten fähig sind."

PS: Neben den bereits erwähnten, finden sich auch Geschichten folgender Autoren in dieser sehr ansprechenden Anthologie: Megan Abbott, Nicholas Christopher, Michael Connelly, Jeffrey Deaver, Stephen King, Joe R. Lansdale, Gail Levin, Warren Moore, Joyce Carol Oates, Kris Nelscott, Jonathan Santlofer sowie Justin Scott.

Nighthawks
Stories nach Gemälden von Edward Hopper
Herausgegeben von Laurence Block
Droemer, München 2017

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